Vom „Wurzengraben“ bis zum Schnaps: Der „Galtürer Enzian“ zählt zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe Österreichs
In der Paznauner Ortschaft Galtür wird alljährlich im Herbst die schöne Tradition des „Enzian Wurzengrabens“ gelebt, die es in der Region seit Jahrhunderten gibt und die 2013 auch in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes Österreichs aufgenommen wurde. Die Aufnahme des „Galtürer Enzians“ in das UNESCO-Kulturerbe wurde durch das „Wissen um die Standorte, das Ernten und das Verarbeiten des punktierten Enzians“ begründet.
Jedes Jahr wieder steigt am 8. September – dem Galtürer Kirchtag – die Spannung: Aus allen Anmeldungen der Gemeindebürger werden jene 13 Galtürer Haushalte per Los gezogen, die zu den Glücklichen zählen, im Silvretta Gebirge nach den Wurzeln des wilden Enzians graben zu dürfen, um daraus kostbaren Enzianschnaps herzustellen. Die dreizehn Lose werden unterschiedlichen Gebieten zugeteilt: drei dem Jamtal, drei dem Lareintal, drei dem vorderen und vier dem hinteren Vermunt. Auf den Berghängen über Galtür wächst ab einer Höhe von rund 1.800 Metern hauptsächlich der Punktierte Enzian (Gentiana punctata) und vereinzelt der Purpurrote Enzian (Gentiana purpurea). Erst ab dem 1. Oktober – das ist streng geregelt – dürfen die Losgewinner mit dem „Wurzengraben“ von jeweils 100 kg im zugelosten Gebiet beginnen.
Graben in steilem Terrain
Wer nun glaubt, das Graben der Enzianwurzeln sei einfach, der irrt. Die begehrten Wurzeln wachsen in steilem, teils auch steinigem hochalpinem Gelände. Der Aufstieg ist beschwerlich und jede Familie bzw. jeder Haushalt nimmt nur Pickel, Rucksack und eine „Kraxe“ (Traggestell aus Holz für Lasten) als Ausrüstung mit. Da nur verdorrte Pflanzenstängel und verwelkte Blütenblätter auf die unterirdischen Wurzeln hinweisen, braucht es außerdem ein geübtes Auge, um diese auf den bewachsenen Hängen auszumachen.
Strenge Auflagen zur Sicherung des natürlichen Bestands
In den 1990er Jahren wurde diese Wildpflanze unter Naturschutz gestellt – die Auflagen für das Graben sind entsprechend streng: So sollen nur Wurzeln von Enzianpflanzen ausgegraben werden, die in diesem Jahr auch geblüht haben, die oberirdischen Pflanzenteile, insbesondere die Samen, sind an Ort und Stelle zu belassen. Es sollte auch nicht die gesamte Wurzel entfernt werden. Den Galtürern ist das Recht zugesprochen, jährlich insgesamt 1.300 Kilo an Enzianwurzeln zu ernten, um diesen besonderen, jahrhundertealten Brauch aufrecht erhalten zu können. Vonseiten der Behörde werden regelmäßig sogenannte „Beobachtungsfelder“ abgesteckt, um sicherzustellen, dass der natürliche Bestand des wilden Enzians durch die Wurzelgrabungen nicht gefährdet ist, was bisher auch noch nie der Fall war.
Die zugelosten 100 kg Wurzeln auszugraben, bedeutet tagelange harte Arbeit. Zurück im Tal werden die Wurzeln geputzt, dann zum Brenner gebracht und dort zerkleinert und „eingemaischt“. Aus 100 Kilogramm Wurzeln entstehen nicht mehr als sechs bis sieben Liter des kostbaren Enzianschnaps, der nicht nur hervorragend schmeckt, sondern auch bei Magen- und Verdauungsbeschwerden helfen soll. Da der Enzianschnaps so kostbar ist, wird er auch nur zu besonderen Anlässen im Familien- oder Freundeskreis ausgeschenkt, denn nach jeder erfolgreichen Losziehung ist man drei Jahre lang für das „Wurzengraben“ gesperrt.
Der „Galtürer Enzian“ ist Teil der Dauerausstellung „Ganz Oben“ im Alpinarium Galtür. Auf zwei Themeninseln werden die „Stimme des Enzians“, Geschichte und Geschichten zur gelebten Tradition, Standorte, Gewinnung, Verarbeitung und Heilkraft dem Besucher spannend vermittelt.